Sich erwachsen fühlen...
Auf dem Weg ins Erwachsenenleben müssen wir heute im Gegensatz zu früher nicht mehr klar definierte Etappen in einer vorgegebenen Reihenfolge zurücklegen. Wir können zum Beispiel die Volljährigkeit erreichen (in der Schweiz 18 Jahre), eine Ausbildung abschliessen, in die Arbeitswelt eintreten, aus dem Elternhaus ausziehen, eine Beziehung eingehen, eine eigene Familie gründen oder ein Kind bekommen – alles in beliebiger Reihenfolge – und uns dennoch nicht erwachsen fühlen. All diese Ereignisse sind Etappen auf dem Weg zu Autonomie und Unabhängigkeit.
Ein Gefühl des Erwachsenseins entsteht vielmehr dadurch, dass wir Erfahrungen sammeln und lernen, unsere Verantwortung wahrzunehmen.
Diese Lernprozesse durchlaufen wir alle im eigenen Rhythmus und unseren Fähigkeiten entsprechend.
...ist motivierend und anspruchsvoll...
Beim Übergang ins Erwachsenenleben können wir gleichzeitig grosse Energie und Begeisterung verspüren, aber auch Unsicherheiten und Spannungen, die Unbehagen oder Angst auslösen können:
- Wir sind hin- und hergerissen zwischen dem Drang, die sich eröffnenden neuen Möglichkeiten zu entdecken, und der Furcht vor dem Unbekannten.
- Wir möchten rasch auf eigenen Beinen stehen, stellen aber fest, dass wir noch nicht reif genug sind, um gewisse Bedürfnisse selbst zu erfüllen und finanziell oft nicht wirklich unabhängig sind.
- Wir erleben eine Zeit der intensiven Beschäftigung mit unserer Identität, die sehr stimulierend sein, uns aber auch dazu verleiten kann, unverhältnismässige Risiken einzugehen, weil wir dazugehören wollen, Gruppendruck nachgeben oder Mühe haben, unsere Impulse und Emotionen zu regulieren.
- Wir befinden uns ständig in Übergangs- und Zwischenphasen, in denen wir ein neues Gleichgewicht finden müssen.
- Wir nehmen widersprüchliche Bedürfnisse wahr, möchten gleichzeitig Sicherheit und Freiheit, Selbstständigkeit und Orientierung. Dieses Spannungsverhältnis kann Stress und Instabilität verursachen.
- Wir sind konstant mit neuen Situationen konfrontiert, die uns aus unserer Komfortzone bringen und vor Unsicherheiten stellen. Das kann Angst auslösen und verlangt viel Mut.
- Wir müssen in allen Lebensbereichen (Beziehungen, Ausbildung, Arbeit, Wohnen usw.) Entscheidungen fällen und unsere Werte und unsere persönliche Ethik definieren, um unseren Erfahrungen und Entscheidungen einen Sinn zu geben.
...aber auch kritisch für die psychische Gesundheit
Angesichts all dieser Anforderungen ist es völlig normal, sich ab und zu verunsichert und nicht in Höchstform zu fühlen. Worauf es dann wirklich ankommt, ist:
- dass wir in allen Situationen, die wir erleben, unser Bestes geben;
- dass wir uns nicht verurteilen oder abwerten, wenn wir das Gefühl haben, etwas nicht zu schaffen;
- dass wir alle unsere Kompetenzen, die wir entwickeln und einsetzen, um diese Zeit zu überstehen, anerkennen.
Dann sollten wir auch nicht vergessen, dass viele Dinge nicht nur von uns abhängen und etliche Faktoren unser psychisches Wohlbefinden beeinflussen:
- Zwischen 16 und 25 Jahren sind wir noch stark auf die Bildungseinrichtungen und die Unterstützung unserer Eltern angewiesen
- Die heutige Welt ist komplexer. Sie steht vor ökologischen und globalen Herausforderungen, die sehr verunsichernd sein können
- Die Gesellschaft wird immer individualistischer und bietet immer weniger Orientierung.
In diesem Zusammenhang kann es trotz aller Bemühungen vorkommen, dass wir uns in einer Situation wiederfinde, die wir nicht lösen können oder die unser Wohlbefinden beeinträchtigt. Wenn wir uns in Schwierigkeiten befinden, sollten wir nicht zögern, Hilfe in Anspruch zu nehmen, denn man wird nicht ganz allein und auf einen Schlag selbstständig und erwachsen. Dafür brauchen wir Zeit, Orientierung, Sicherheit und Unterstützung.